Mit den Festwochen feiern wir die Schönheit – aber auch das ungewohnt Anzuhörende.
Und wie immer feiern wir vor allem die Musik und mit Musik – aber auch das sich mit ihr Auseinandersetzen und darüber Nachdenken!
Daher lautet unsere Frage in diesem Jahr: «Wer hält die Fäden in der Hand?»
Wer oder was bestimmt unser Leben?
Eine Frage so alt wie das Denken selbst – und doch von unverminderter Dringlichkeit.
Ist es das Schicksal, jene nicht greifbare Instanz, die uns mit unsichtbarer Hand lenkt?
Eine theologische Größe, ein Gott, der den Plan bereits kennt?
Oder sind wir selbst die Architektinnen unseres Daseins – frei – autonom – selbstermächtigt?
Die Frage blättert sich bei genauerer Betrachtung in ihrer Vielschichtigkeit noch sehr viel verzweigter vor uns auf und berührt uns auf vielen Ebenen: persönlich – emotional – soziologisch – vielleicht auch esoterisch – theologisch – und in unserem gesellschaftlichen Miteinander.
Und ich sage Ihnen gleich: Nicht auf jede Frage, die ich formulieren werde, habe ich Ideen für eine Antwort. Hinter jeder verbirgt sich nämlich ein Kosmos philologischer, philosophischer und psychologischer Verwicklungen, die den Rahmen dieses Moments hier sprengen würden.
Zunächst würde ich postulieren wollen, dass wir dazu neigen, die Frage vertikal zu betrachten.
«Wir hier unten» und ggf. wer oder was auch immer «dort oben». Schon die Lehre von der Schwerkraft führt so zur Idee eines Gefälles. Das «dort oben» hat demnach unweigerlich die Oberhand.
Egal ob im Bild der Marionette, die vom über ihren stehenden Spieler gelenkt wird, und ohne dessen Zug als lebloses Häufchen Material am Boden zusammengekrümelt liegen würde oder in der großen Frage nach der Lenkung unseres Lebens – es ist ein Gott, ein Wesen, ein Universum etc. – «dort oben». Und selbst in unserer politischen Wahrnehmung tendieren wir dazu, von „denen da oben“ zu sprechen.
Sind wir mit dieser vertikalen Betrachtungsweise aber nicht vielleicht auf dem Holzweg?
Sollten wir die Frage nicht vielmehr horizontal betrachten?
Ein demokratisches Grundverständnis würde uns ja eigentlich dazu einladen.
Demokratie als ein partizipativer Prozess des Miteinanders – ein Seil ziehen bzw. Fäden ziehen, um im Bild zu bleiben. Meine Stimme im gleichwertigen Austausch gegen eine Interessensvertretung. Das wäre im Idealfall eine sehr horizontale Umsetzung.
Nicht nur politisch, sondern ganz grundlegend menschlich würde das Bild in der Horizontalen uns weitaus besser tun.
Dann wird aus dem Gefälle eine Ebene, auf der sich allerlei Fäden in allerlei Richtungen und allerlei Spannungszuständen zu einem dichten Netz verweben.
Für unser Programmbuch hatten wir verschiedene Menschen um ihre Antwort auf die Frage gebeten, wer die Fäden in der Hand hält.
Die Antwort meines – sehr naseweisen – 4-jährigen Neffen kam wie aus der Pistole geschossen: «Ich!» Dann hat er scheinbar ungerührt seinen Kuchen weitergegessen und nach einiger Zeit nachdenklich hinterher geschoben: «Aber weißt du, Eva, manchmal schon auch Jonna, aber nur wenn sie keine blöden Ideen hat. . .Und ganz manchmal vielleicht auch die Mama – und der Papa. Aber, weißt du, wirklich nur ganz manchmal.»
Ein Netz des Miteinanders – Abwägens, aufgespannt aus der Sicht eines Kindes.
Sehen wir denn das Netz, dass sich vor uns allen auftut?
Wollen wir die Fäden, die uns verbinden, überhaupt sehen? Verlernen wir mehr und mehr, auf diese Fäden zu achten?
Wollen wir uns überhaupt mit der Idee anfreunden, dass es tatsächlich nicht nur ein mächtiges Ende des Fadens geben könnte?
Wenn ja: Vermögen wir die Wucht abzuschätzen, die ein Zug an unserer Seite des Fadens haben kann?
Oder ziehen wir einfach ungeachtet so heftig, dass dem Gegenüber die Hände brennen?
Welche Verantwortung geht für jede und jeden einzelnen von uns mit dieser Vorstellung einher?
Wir als Menschen in einem soziologischen Geflecht, in welchem wir nun mal miteinander verwoben sind, müssen uns der Verantwortung bewusst sein und sie vor allem auch mutig annehmen.
Der Verantwortung nämlich, nicht simplen Erklärungsmustern anheimzufallen, nicht das sich selbst Naheliegendste als den Weltmittelpunkt anzunehmen, und den eigenen Gartenzaun als das Ende des Greifbaren zu betrachten, sondern in einen Diskurs zueinander zu treten.
Auszutesten, wie viele Fäden auf mich zulaufen, wo sie hinführen, welche Ursachen es für das „Unter Spannung stehen“ gibt und warum es sich irgendwo ganz fürchterlich verknotet.
Wir müssen das Unwohlsein ertragen, dass Erklärungen nicht simpel sind, Meinung vielfältig ist und es sich lohnt, sich damit auseinandersetzen. Am anderen Ende des Fadens sieht die Welt nämlich sehr wahrscheinlich ganz anders aus.
Und es erfordert Kraft, geistig in Bewegung zu bleiben, abzuwägen, wann der Faden reißen kann, und wann ein über den eigenen Schatten springen notwendig ist, für das Wohl anderer – noch weiter entfernt als einfach nur am anderen Ende des Fadens.
Für diese Anstrengung braucht es zum Ausgleich Oasen.
Zum Verlangsamen, Freude Empfinden; zum sich inspirieren lassen; zum Vorbild in Vergangenen finden, egal ob als leuchtendes oder warnendes Beispiel.
Zum Trauern, Aufrichten, Gemeinschaft empfinden und – so paradox es klingen mag – Stille im Kopf herstellen.
Genau das kann Kunst und Kultur – in unserem Fall die Alte Musik.
Die mit ihr vertonten Geschichten sind Inspirationsquelle, denn wir müssen Oper nicht als alte Geschichte erleben, sondern können sie als Echo in unsere Zeit, als Frage an uns selbst erfahren.
Die Opern, die im Mittelpunkt unserer heurigen Festwochen stehen, sind hierfür exemplarisch.
Das Schicksal der Iphigenie, einer Frauenfigur, der Willkür der Götter und dem kriegerischen Streben des eigenen Vaters ausgesetzt, die sich erst im zweiten Teil ihrer Lebenserzählung mit Gewalt selbst ermächtigt. Der Geschichte erster Teil eröffnet heute Abend die Festwochen, in einer Inszenierung der – was läge näher – Puppenkompanie PerPoc.
Iphigenie kann ein tragisches Lied davon singen, wie es sich anfühlt, von anderen durchs Leben geführt zu werden – plastisch und im übertragenen Sinn.
Und die Erzählung von Giustino, der den Wink Fortunas zu nutzen weiß und sich seinen Lebenstraum erfüllt. Diese Oper ist ein musikalisches Plädoyer für das Vertrauen darauf, dass wir nicht ausgeliefert sind - auch wenn es manchmal so scheint.
Ich werde nun nicht – um das Bild einer idyllischen Oase zu vervollständigen - behaupten, dass Musik immer nur Wohlklang ist. Sie lebt vom Widerspruch, vom sich Kontrastierenden, von der Reibung und dem Dazwischen. Von der Resonanz und der Reaktion. Die wiederum eine kollektive ist.
David Prieth hat in einem Text für unser Festwochen-Magazin geschrieben:
«Kunst ermöglicht nicht nur kritische Reflexion, sondern im Idealfall auch neue, stärkere Gemeinschaften und einen gestärkten solidarischen Zusammenhalt.»
Unsere horizontalen Fäden erhalten durch Kunst also Verstärkung, werden belastbarer und biegsamer. Was soll uns Schlechteres widerfahren?
Ach ja, falls Ihre Oase nicht die Musik und schon gar nicht die Alte Musik ist, sondern «lei am Berg» die Stille im Kopf herzustellen und Kraft dort zu finden ist, dann ist das auch in Ordnung. Wir sind ja hier schließlich in Tirol.
Wenn ich zum Abschluss die diesjährige Frage nochmals stelle: «Wer hält die Fäden in der Hand?»
Dann lautet die universellste Antwort darauf: Wir alle. Und keine und keiner allein.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen – und uns allen – Festwochen voller Musik, voller Fragen, voller Mut, sich einzulassen und die Fäden unseres Miteinanders immer wieder und weiter zu verweben. Horizontal – auf Augenhöhe – und uns dem aktiven Diskurs aussetzend.
Auszug aus der Einstimmung zur Eröffnung der 49. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik vom 8. August 2025